Über Daraa und den Beginn der syrischen Revolution


In Yasmins Heimatstadt Daraa hat die syrische Revolution begonnen – losgesprüht von ein paar Teenagern als Grafitti an beige Schulmauern. Die Geschichte von Mouawiya, Bashir und ihren Freunden ist von den Medien oft erzählt worden:

Sie und ihre Kumpels aus der siebten Klasse kaufen Mitte Februar 2011 Spraydosen. In der kommenden Nacht sprühen sie tollkühn Sätze an die Wand, die sich in Syrien damals noch kaum jemand zu sagen traut:

„Nieder mit dem Präsidenten!“ „Das Volk will den Sturz des Regimes“, „Du bist dran, Doktor“. Doktor, das ist Bashar Al Assad, der in London studierte Augenarzt, der seit elf Jahren das Land mit Gewalt und Korruption regiert; so wie sein Vater Hafis das zuvor 30 Jahre lang getan hat. Die Jungs aus Daraa haben sich diese Sätze nicht ausgedacht, längst rumort es in der syrischen Bevölkerung. Insbesondere, seitdem in den zwei Monaten zuvor der arabische Frühling in Tunesien und Ägypten die Diktatoren vertrieben hat und die Hoffnung auf Demokratie nach Jasmin duftet.

Auch die Schüler riechen das. Bashir, Mouawiya und ihre Freunde, etwa 15 Jungs zwischen 10 und 15, hängen nachmittags auf dem Fußballplatz ab, diskutieren die Nachrichten aus Nordafrika und hecken dabei ihren folgenschweren Streich aus.

An diesem Morgen Mitte Februar 2011 ruft der Hausmeister der Schule die Polizei, als er die Grafitti entdeckt. Einige Medien schreiben, man habe die Jungs durch Schriftproben oder einen Rechtschreibfehler entlarvt. Bashir, Mouawiya und ihre Freunde tauchen ab, verstecken sich bei Verwandten. Doch Assads Geheimpolizei findet sie nach wenigen Tagen.

Tagsüber Folter und nachts Verhör

„Sie sind etwas kleiner als meine Söhne Muda und Muaz, deshalb kannte ich sie nicht. Aber eine der Familien ist mit uns verwandt, ich kenne die Eltern“, sagt Yasmin. Einen Monat lang sind die Teenager verschwunden.

Die Zeitung Die Welt hat später Bashir getroffen. Er spräche von der Folter wie von einem Fußballspiel, schreibt die Journalistin. Die Jungen wurden mit kaltem Wasser übergossen und dann nass unter Strom gesetzt. In LKW-Reifen gepresst und durch den Raum gerollt. Oder an den Händen aufgehängt, den ganzen Tag lang, bis ihre Füße den Boden berühren, wie Mouawiya dem Sender Al Jazeera sagt.

In Daraa leben damals knapp 100.000 Menschen. Die Stadt ist das Handelszentrum der Agrarregion ganz im Südwesten Syriens und berühmt für ihr Olivenöl.

Die Menschen hier sind bisher ruhig geblieben unter dem Diktat Assads. Doch als ihre Kinder verschleppt werden, begehren sie auf. Es sind große, stadtbekannte Familien. Beim Freitagsgebet machen sie auf das Verschwinden ihrer Söhne aufmerksam und ziehen mit immer mehr Menschen von Moschee zu Moschee. Es ist der 18. März 2011, das Datum, an das sich Syrer als Beginn ihrer Revolution erinnern. Es ist die erste große Demonstration gegen das Assad-Regime, die erste von Hunderten in Daraa in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten, Jahren.

Vier Menschen erschießt Assads Geheimpolizei an diesem Tag, ihr Begräbnis wird zum nächsten großen Protest. Die Demonstranten tragen Olivenzweige als Zeichen des Friedens - und Särge, als Anklage gegen das Regime. Unterdessen lenkt Assad ein: Am 20. März lässt die Geheimpolizei die Jugendlichen frei.

Friedliche Demonstranten, Scharfschützen auf den Dächern

Doch die Demonstrationen in Daraa werden immer größer. Eine BBC-Dokumentation aus dem Jahr 2011 zeigt Straßen voller Menschen, die friedlich nach Umsturz und Freiheit rufen. Auch Yasmins Söhne und ihr Mann sind dabei. „Immer mehr und mehr Einwohner zogen auf die Straße, es war spontan und friedlich, es gab keine Waffen“, sagt ein jordanischer Journalist, der damals dabei war. Als Leipziger*in empfindet man Parallelen zu 1989. Doch in Daraa schießen Scharfschützen von den Dächern.

„Eine ausländische Verschwörung, Terroristen und bewaffnete Kriminelle“: So rechtfertigt die Regierung den Schießbefehl auf die Demonstranten. Soldaten, die verweigern, werden selbst hinterrücks abgeknallt.

Zentrum der Proteste ist die Al-Omari-Moschee, ein Ort der Sicherheit – auch hier eine Parallele zu Leipzig. Verletzte werden in die Moschee gebracht statt ins Krankenhaus, da sie dort sofort verhaftet oder gleich getötet würden. Doch am 23. März stürmen Assads Leute auch die Moschee. Panzer rollen durch die Straßen, schießen selbst auf Krankenwagen und Kinder, nehmen fest, foltern und töten.

„Da haben wir gebremst, sind nicht mehr auf die Straße gegangen“, sagt Yasmin. Doch ihr großer Sohn Muda, damals 17, demonstriert in den Pausen mit seinen Mitschülern, bis die Polizei die Schule stürmt. „Ich war sportlich und schnell“, sagt Muda.

Laptop im Bulgur, Kamera in der Toilette

Die Angst ist täglicher Begleiter. Ende April wird Daraa vom Regime abgeschottet, von Wasser, Essen und Strom abgeschnitten. Die Blockade soll die rebellische Bevölkerung mürbe machen. Die Geheimpolizei terrorisiert mit Durchsuchungen und Festnahmen die Menschen, Yasmin und ihre Familie sind Tag und Nacht unter Stress. Unter falschen Namen schreiben sie bei Facebook gegen das Regime und bringen sich in Gefahr. Alle ein bis zwei Wochen wird die Wohnung durchwühlt, sobald sie hören, dass Militär sich nährt, löschen sie die verbotenen Kanäle vom Fernsehgerät, vernichten Flaggen und Plakate, verstecken ihr Laptop im Bulgur, wickeln die Kamera in Plastiktüten und stopfen sie in die die Toilette.

Es sind vor allem die Jungen, auf die Assads Schergen es abgesehen haben. Sie werden einkassiert und kehren nicht zurück. Einige Eltern erhielten einen Bescheid, sagt Yasmin – einen Zettel, auf dem der Tod des Sohnes mitgeteilt wurde. Als ich Yousras Sohn Mouaz im Deutschkurs einmal frage, ob er in Leipzig schon Freunde gefunden habe, sagt er Nein. Aber seine Freunde in Daraa seien auch tot. Er lächelt dabei und wippt auf seinem Stuhl hin und her.

Bashaars Mörder können die Menschen nicht aufhalten. Damaskus, Aleppo, Hama, Homs… überall demonstrieren sie. Auch Tausende Soldaten wollen nicht mehr unter Assad kämpfen, die Rebellen bilden die Free Syria Army an der Seite der protestierenden Bevölkerung. Doch es ist auch die Stunde der Islamisten, die Al-Nusra-Front entsteht und ab 2013 breitet sich der Islamische Staat aus, will sein Kalifat etablieren. Syrien ist umkämpft, Iran und Russland unterstützen den Diktator, der seine Menschen mit Giftgas bekämpft. Die Vermittlungsversuche der internationalen Gemeinschaft, Waffenstillstände und Friedenskonferenzen, scheitern allesamt.

Die Flucht: Yasmins Sohn bekommt ein Visum für Deutschland

2,5 Millionen Menschen haben Ende 2013 Syrien verlassen.

Auch Yasmins Sohn Muda ist nach Ägypten geflüchtet und schafft es, ein Studentenvisum für Deutschland zu bekommen.

Seine Familie lebt derweil noch in Daraa, denn Muaz soll 2014 noch das Abitur machen. Yasmin leidet Todesangst um ihre Söhne. Am Tag, an dem Muaz seine Abiturprüfung ablegt, arbeitet sie als Laborassistentin in einer anderen Schule und erlebt mit, wie die Geheimpolizisten zwei Abiturienten verhaften.

Da hält Yasmin es nicht mehr aus, die Entscheidung fällt: Sie wird mit Mouaz und ihrer kleinen Tochter Leyla flüchten, ihr Mann soll nachkommen. Ende des Sommers 2014 sind drei Millionen Syrer auf der Flucht. Auch Yasmin und ihre Kinder, ihr Bruder Yasser begleitet sie, mit ihm wird sie später auch im Deutschkurs sitzen. 4700 Dollar pro Person zahlt Yasmin den Schleppern, sie verkauft dafür ihren Goldschmuck. Die Route, die die Schlepper vorgeben, führt sie im Zickzack zuerst in den Libanon, von dort im Flugzeug nach Algerien und weiter nach Libyen, um mit einem der Flüchtlingsboote das Mittelmeer nach Italien zu überqueren. Von dort aus geht es nach Deutschland.

Ankommen: Das bedeutet für Yasmin und ihre Familie die Ankunft in den ehemaligen Kasernen der Erstaufnahmeeinrichtung in Schneeberg, Erzgebirge. Anfang 2015 werden sie Leipzig zugeteilt.

Und Daraa? Bis zum Sommer 2018 ist die Region um die Stadt eins der letzten Gebiete Syriens, in denen die Rebellen mit Hilfe der Syria Free Army standhalten. Doch am 23. Juni 2018 bombardieren syrische und russische Flugzeuge die Stadt. Die Rebellen kapitulieren, einige lassen sich auf Deals ein, die Russland mit dem Assad-Regime aushandelt, andere setzen sich in Busse nach Edlib, um dort weiter zu kämpfen. Wieder andere formierten sich neu und ringen um die Macht mit oder gegen Russland, den Iran, die Hisbollah, die syrische Amee. Entführungen, Attacken, Festnahmen… Die Gewalt hat kein Ende.


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