Flucht und Balkanroute


Im Jahr 2014 stellte Mohamed seinen Antrag auf Asyl. In diesem Jahr wurden in Deutschland insgesamt ca. 173.000 Erstanträge auf Asyl gestellt. In den Jahren 2015 und 2016 erhöhte sich diese Zahl auf 442.000 bzw. 772.000 Erstanträge. (Migrationsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge)

In den letzten 10 Jahren hat sich die Zahl der Menschen, die von Flucht und Vertreibung betroffen sind mehr als verdoppelt. Laut UNHCR sind 2019 ca. 79,5 Mio. Menschen davon betroffen. Mehr als die Hälfte der in Europa lebenden Geflüchteten kommt aus Syrien. Ein Drittel aller in Deutschland lebenden Geflüchteten kommt 2018 aus Syrien. Insgesamt steigt der Anteil der in Deutschland lebenden Menschen, die nicht in Deutschland geboren sind, seit den 1950er Jahren stetig an.

In Europa wird die Asylpolitik maßgeblich durch zwei Verträge geregelt "Der eine, das Schengener Abkommen II, führte zur Abschaffung der Grenzkontrollen innerhalb der EU und definierte die EU-Außengrenzen stärker, (die durch die Frontex gesichert werden). Der andere, das Dubliner Übereinkommen, regelt, welches Land seit 1997 für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist. [...] Idee der Dublin-Regelung ist es, mehrfache Asylanträge in verschiedenen EU-Staaten zu verhindern. Um zu entscheiden, welcher Staat für ein Asylverfahren zuständig ist, wurden verschiedene Kriterien definiert, etwa das Land der ersten Einreise in die EU oder familiäre Bindungen in einem Mitgliedsstaat. Danach wird entschieden. Entsprechend können Geflüchtete nicht einfach selbst entscheiden, in welchem Land sie Asyl beantragen möchten. In der überwiegenden Mehrheit der Fälle wurde das Kriterium des Ersteinreisestaates angewendet. [...] Die betroffenen Personen werden dann in das Ersteinreiseland innerhalb des Schengenraumes abgeschoben, um in diesem Land das Asylverfahren zu durchlaufen. Aus diesem Grund wurden ab den 2000er-Jahren vor allem Griechenland und Italien für die überwiegende Mehrheit der Asylverfahren zuständig. Denn die bedeutendsten Fluchtrouten nach Europa – über die Ägäis und das zentrale Mittelmeer – führen in diese Länder. Geflüchtete in den überforderten Ländern der EU-Außengrenzen mussten oftmals auf der Straße ihr Überleben sichern, während die Zahl der Asylverfahren im Norden stark zurückging.

Ab 2011 änderte sich dies. (Beim Grenzschutz im Mittelmeer hatte die EU immer stärker auf die Zusammenarbeit mit nordafrikanischen Regierungen gesetzt. Die Revolutionen des Arabischen Frühlings beendeten jedoch die Kooperationen weitgehend – und deshalb brach auch das Grenzregime im Mittelmeer vorerst zusammen.) Gleichzeitig stieg die Zahl kriegerischer Konflikte auf der Welt, was mehr Flüchtlinge nach Europa trieb. Und hohe Gerichte begannen, die Menschenrechte von Geflüchteten durchzusetzen: Die ohne jedes Verfahren praktizierten Zurückschiebungen im Mittelmeer und die innereuropäischen Dublin-Abschiebungen nach Griechenland wurden untersagt, zu schlecht wurden die Menschen dort behandelt. Das Dublin-System funktionierte nun immer schlechter. Südliche EU-Staaten vermieden es zunehmend, den ankommenden Menschen Fingerabdrücke abzunehmen. Die Kriege in Jugoslawien, am Persischen Golf, in Afghanistan und in Syrien haben deutliche Zunahmen bei der Zahl der Asylbewerber*innen ausgelöst Das Asylsystem der EU funktioniert nicht. Die Ankunftsländer im Süden sind überfordert. Es war klar, dass sich die meisten Asylsuchenden auf den Weg nach Norden machen würden. Immer mehr Geflüchtete widersetzten sich den Abschiebungen oder klagten erfolgreich vor Verwaltungsgerichten. 2015, im „Sommer der Migration“, kollabierte dieses System. Hunderttausende, überwiegend aus Syrien, suchten sich einen Weg von der Türkei nach Griechenland. Von dort gelangten sie über die sogenannte Balkanroute ins Innere der EU.“ (Atlas der Migration, 2020, Rosa-Luxemburg-Stiftung S.30f)

In der Regel haben Geflüchtete kaum die Möglichkeit, legal nach Europa zu gelangen, etwa mit dem Flugzeug. Der Grund: Sie bekommen kein Visum - es bleibt ihnen oft nur, sich Schleppern anzuvertrauen.

Wie Mohamed erreichten im Jahr 2014 Zehntausende Menschen Deutschland über die Wastbalkanroute. Die Balkanroute ist schon seit langer Zeit eine wichtige Handelsroute und ab 2014 einer der größten Migrationskorridor in Europa, sie führt im westlichen Teil von Griechenland über Nordmazedonien, Serbien nach Ungarn und weiter über Österreich nach Deutschland. Im Jahr 2015 reisten über 760.000 Vertriebene auf der Balkanroute von der Türkei über Griechenland nach Zentraleuropa. Entlang der Route herrschten elende Zustände. Die Menschen versuchten, sich zu Fuß zur nächsten Grenze durchzuschlagen und strandeten im Nirgendwo.

Der Weg auf dieser Balkanroute ist seit dem Spätsommer 2015 immer schwieriger geworden, bis im Frühjahr 2016 schließlich kaum noch ein Durchkommen war.

Amnesty International beschreibt die Situation der Geflüchteten an der „Festung Europa“ folgendermaßen: „Tausende Geflüchtete und Asylsuchende sowie Migrantinnen und Migranten sitzen auf ihrem Weg in die Europäische Union in den Westbalkan-Staaten Mazedonien und Serbien fest. Dort werden sie häufig von staatlichen Behörden und kriminellen Banden misshandelt und erpresst.

Die Flüchtlinge leben ständig mit der Gefahr, an einer der Grenzen zwischen Griechenland, Mazedonien und Serbien in das vorherige Land zurückgeschickt (push-backs) oder willkürlich inhaftiert zu werden, oft einhergehend mit Gewalt und schweren Misshandlungen.“ Viele verlieren durch maffiöse Banden alles, was sie noch besitzen, so wie Mohamed.

Der Großteil der über die Balkanroute geflüchteten Menschen gelangte über die bayerische Grenze nach Deutschland. Noch im September 2015 kamen täglich Tausende Flüchtlinge am Münchener Hauptbahnhof an. Der Oktober 2015 stellt mit mehr als 200.000 aus der Türkei in Griechenland ankommenden Personen, den Monat mit der höchsten Anzahl neuankommender Schutzsuchender dar.

Die Schließung der Balkanroute veränderte die Migrationsbewegung in die EU und innerhalb der EU massiv. Laut einem Bericht der faz 2015 kamen demnach insgesamt 759.000 Asylsuchende über die bayerische Grenze nach Deutschland, 2016 waren es noch etwa 155.000. Der größte Einschnitt ist ab dem März 2016 erkennbar – dem Monat, in dem die Balkanroute faktisch geschlossen wurde. Die Zahl der Geflüchteten, die seither in Deutschland ankommen, ist seit der Schließung der Balkanroute deutlich zurückgegangen.

Die ersten massiven Einschränkungen der Migrationsbewegung auf der Balkanroute erfolgten bereits 2015. (bpb) Am 17. Juni 2015 ordnete die ungarische Regierung den Bau eines Grenzzaunes an der Grenze zu Serbien an. Am 17. September begann Ungarn mit dem Bau eines Grenzzauns an der ungarisch-kroatischen Grenze, die am 17. Oktober 2015 geschlossen wurde. Am 18. und 19. November 2015 begannen Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien nur noch wenige Schutzsuchende passieren zu lassen.

In der Folge des Gemeinsamen EU-Türkei Aktionsplans ab Mitte Oktober sank die Anzahl sukzessive auf circa 60.000 neu ankommende Schutzsuchende in Griechenland aus der Türkei im Januar 2016. Mit der EU-Türkei-Erklärung im März 2016 sank laut einer Studie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge die Zahl dann weiter deutlich, zunächst auf wenige Tausend Neuankommende pro Woche und schließlich dauerhaft auf weniger als einige Hundert wöchentliche Neueinreisen. Dieser Trend setzte sich fort.


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